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Geschichten aus dem LebenZwischen zwei Kulturen

Nischendenken

 

Feliks Berul erzählt über die Suche seiner Nische auf dem deutschen Markt und über einen ungewöhnlichen Tätigkeitsbereich.

 

 

Feliks, woher kommen Sie?

Eigentlich bin ich aus Moskau. Ich sage „eigentlich“, weil ich in meinem Leben schon die halbe Welt bereist habe. Ich habe in Moskau Schiffsmechaniker gelernt. Danach habe ich zwei Studien abgeschlossen - an der Wirtschaftsfakultät des Moskauer Staatlichen Luftfahrtinstituts und an der Plechanow-Akademie für Wirtschaft. Dort habe ich Volkswirtschaftsprognostik studiert. Ich war sogar mal an der Erstellung des staatlichen Wirtschaftsplans der Sowjetunion beteiligt. Aber 1989 beschloss ich den Staatsdienst zu quittieren, um mich dem Versicherungswesen zu widmen. Die letzten 15 Jahre, vor meiner Einreise nach Deutschland, war ich in diesem Bereich tätig.

Warum bin ich hier? Möglicherweise ist Ihnen die Erzählung vom Ritter Tristan und der Schönheit Isolde bekannt?

Natürlich!

Der erste Mensch, der diese Erzählung in deutscher Sprache aufschrieb, war ein gewisser Herr Berul. Viele Jahre habe ich mit Hilfe meiner Verwandten unseren Stammbaum erstellt. Meine Familie stammt aus dem Teil Deutschlands, der sich heute im Westen befindet. Und wenn ich gefragt wurde, im welchen Land ich leben wolle, habe ich geantwortet – entweder in Kanada oder in Deutschland. Während meiner Tätigkeit im Versicherungswesen hatte ich oft mit Deutschland zu tun. Ich habe hier gearbeitet, gelernt und an vielen Seminaren teilgenommen.
2004 bin ich dann offiziell nach Potsdam übergesiedelt. Allerdings trug die Integration hier, gelinde gesagt, einen nicht so ganz integrativen Charakter, deshalb musste ich was unternehmen, ohne Arbeit ging es nicht. Deshalb fing ich an, eine Beschäftigung zu suchen, in der ich mein Wissen und meine Kräfte einbringen könnte. Ich hatte den Gedanken in der Tourismusbranche zu arbeiten, weil ich mit dieser Branche früher sehr eng verbunden war. Genauso wollte ich mich mit Fotografie befassen, aber… Ich glaube, dass es am wichtigsten ist, (und nicht nur für mich, sondern für alle, die einen Tätigkeitsbereich suchen) den Markt sorgfältig zu untersuchen, um eine Nische zu finden, die noch nicht besetzt ist. Viele Menschen sind im Handel, beschäftigen sich mit Autoreparaturen oder arbeiten in der Baubranche. In diesen Branchen ist die Konkurrenz sehr hoch. Von Null kann man nur anfangen, wenn man 25 Jahre alt ist, um sich dann die weiteren 45 Jahre zu entwickeln.
Die Branche, die ich mir ausgesucht habe, wird Ihnen am Anfang unheimlich erscheinen – ich bin Bestatter. Außerdem bin ich der einzige Bestatter im Land Brandenburg, der jüdisch bestattet. Das war eine Nische, die absolut frei war. Ich tue alles, was für diese Bestattungszeremonie nötig ist. Ich bin Aufseher eines alten jüdischen Friedhofs. Damit begann ich meine Arbeit. Das war mein erster kleiner Schritt auf diesem Gebiet. Ich wurde von der Stadt gut unterstützt, zweimal erhielt ich finanzielle Unterstützung von europäischen Förderinstitutionen. Heute arbeite ich nicht nur für das Land Brandenburg, sondern werde auch in andere Länder eingeladen, weil ich mir diese Bestattungszeremonie, einschließlich ihres religiösen Teils, durch und durch angeeignet habe und mich auch weiterhin darin weiterbilde. Ohne professionelle Ausbildung kommt keine Arbeit zu Stande. Ob man Tische oder Gräber herstellt oder eine Garderobe für eine Aufführung näht oder Harfe spielt, man muss sich immer fortbilden. Außerdem bin ich Leiter einer Wanderausstellung in Alexandrowka und bin für jeden Arbeitseinsatz verantwortlich, der dort stattfindet, einschließlich der Restaurationsarbeiten.
Nach meiner Einreise 2004 fing ich in Deutschland ein neues Leben an. Dabei muss ich erwähnen, dass mein beruflicher Werdegang hier in Deutschland mit 60 Jahren anfing. Man darf keine Angst haben, mit irgendwelchen Problemen konfrontiert zu werden. Das größte Problem, das ich habe und das wahrscheinlich nicht zu lösen ist –  ist die Rente mit 65. Nach deutschem Recht bin ich verpflichtet, mit 65 Jahren meine Tätigkeit aufzugeben. Dieser Gedanke bringt mich um.

Feliks, wie fühlen Sie sich in Deutschland?

Ich fühle mich sehr wohl!

Warum?

Die Luft ist hier sauberer, sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinne. Bei all dem, was jetzt in der deutschen Wirtschaft geschieht, gibt es hier ein sehr hohes soziales Niveau, sodass ich mir keinen Gedanken darüber mache, dass ich nur 10 Cent in meiner Tasche habe. Ich weiß, wenn ich heute 10 Cent in meiner Tasche habe, wird es morgen schon 1 Euro sein und übermorgen sind es vielleicht 100 Euro und dann wieder 10 Cent. Aber dies wird auf mein Leben keinen Einfluss haben, ich werde trotzdem essen, trinken, rauchen und ein Dach über dem Kopf haben.

Feliks was können Sie jungen Unternehmern, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind, empfehlen?

Das Wichtigste ist, eine eigene Nische zu finden, sogar dann, wenn sie für diesen Menschen nicht zumutbar erscheint. Wenn der Mensch in seiner Heimat, sagen wir mal, Stahl geschmolzen hat, dann kann er hier Piroggen backen. Hauptsache, er erlernt das. Das Erste, was den Anfang jeder Arbeit begleiten sollte, ist das Wissen um die eigene Nische. Den eigenen Tätigkeitsbereich kann man nur dann finden, wenn man keine Angst hat, von Null anzufangen. Das Zweite ist ein ungewöhnliches Herangehen. Und was noch wichtig ist – man soll sich nicht an seinem ehemaligen Leben orientieren. Man muss vergessen, was damals gewesen ist, man ist in einem neuen Land angekommen, man muss hier neu anfangen. Nur so kann man zum Erfolg im neuen Leben kommen!

 

Ein Projekt des Deutsch-Russischen Austausch e.V. im Rahmen des Bundeprogramms "XENOS - Integration und Vielfalt". Deutsch-Russischer Austausch e.V.