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Geschichten aus dem LebenZwischen zwei Kulturen

Integration durch Kunst

 

 

Alice Keiler ist 1995 nach Deutschland gekommen. Sie erzählt über die Entstehung und Entwicklung ihrer interdisziplinären Kunstschule mit dem Schwerpunkt Theater.

Alice, wo kommen Sie her?

Aus Taschkent. Das ist eine wunderschöne Stadt, eine Migrantenstadt. Als ich da gewohnt habe, gab es da mehr Ausländer als Usbeken. In Taschkent haben Deutsche, Juden, Armenier, Krimtataren, Koreaner und Griechen gelebt. Wir alle waren Migranten. Somit bin ich auf Integrationsprobleme schon in der frühen Kindheit gestoßen.
In Taschkent habe ich an der Taschkenter Universität „Russische Sprache und Literatur“ studiert. Ich hatte hervorragende Dozenten, die nach der Evakuierung und nach dem Krieg in Taschkent geblieben sind. Das waren Gelehrte, die wegen Stalinistischer Repressalien Angst hatten, in ihre Heimat zurückzukehren. Das waren bemerkenswerte Leute, Träger der schönen altrussischen Sprache, Traditionen und des Glaubens an ihr Vaterland. Das alles haben sie an uns weitergegeben. Sie haben uns gelehrt, nicht um der Urkunde willen zu studieren, sondern um Kenntnisse zu erwerben. Danach im Jahr 1990, als alles zusammenfiel, wurde die Fakultät aufgelöst und man hat angefangen, auszureisen. So bin ich zusammen mit meiner Tochter, die 1990 geboren ist, hierhergekommen. Hier war ich genauso wie viele andere – eine Migrantin.

In welchem Jahr sind Sie nach Deutschland gekommen?

1995. Zuerst bin ich nach Greiswald gekommen. Angefangen habe ich so wie alle: mit den Sprachkursen von Otto Benecke. Danach, so wie alle, hatte ich Hoffnung, mit meinen schlechten Deutschkenntnissen irgendeine Arbeit zu finden, wo ich einen festen Lohn beziehen würde, so etwas wie Buchhalterin oder Sekretärin-Referentin. Als ich bei einer Organisation gearbeitet habe, habe ich verstanden, dass ich „geboren bin, um zu fliegen“. Deswegen habe ich ein Studium an der Universität Potsdam aufgenommen. Ich habe Slavistik studiert, als zweites Fach habe ich Hochschulpädagogik gewählt. Das Studium fiel mir sehr schwer. Hier hat man ein ganz anderes Verhältnis zur russischen Kultur. Des Weiteren war ich von lauter jungen Mädchen umgeben. Und ich hatte zu der Zeit eine zehnjährige Tochter.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihr eigenes Theater und Kunstschule zu gründen?

Als meine zweite Tochter, die hier geboren war, in den Kindergarten ging, haben mich die Erzieher gefragt, ob ich für Kinder eine Veranstaltung organisieren kann. Das habe ich gemacht und das ist mir gut gelungen. Dann habe ich meine Bekannten, mit denen ich zusammen im Wohnheim wohnte, angerufen und ihre Kinder zu Proben eingeladen. Zuerst sind nur vier Mädchen gekommen. Unter häuslichen Bedingungen haben wir ein Märchen inszeniert. Kostüme waren aus Tischdecken und Vorhängen genäht. Im Laufe der Zeit haben sich uns Jungen und andere kleinere Kinder angeschlossen. So sind wir 20 geworden.
Einmal habe ich an einer Konferenz teilgenommen, die von der Stadtverwaltung organisiert wurde. Ich habe da erzählt, womit ich mich beschäftige, und man hat mir 1000 Euro für Kostüme und eine kostenlose Raumnutzung zur Verfügung gestellt. Wir haben noch ein Theaterstück aufgeführt. Es sind Zuschauer aus den benachbarten Schulen und Kindergärten gekommen. Das war ein voller Erfolg! Dann sind wir in einen größeren Raum im ehemaligen Haus der Pioniere umgezogen. Die Stadtverwaltung hat mir vorgeschlagen, meine Tätigkeit zu bezahlen. Ich habe das Angebot angenommen. Im Laufe der Zeit hat sich die Finanzierung verändert. Wir haben ein Konzept zusammengestellt und eine große Summe vom Europäischen Sozialfonds erhalten.

Nach einer gewissen Zeit hatte ich schon 52 Kinder in meinem Theater. 10% davon waren deutsche Kinder, der Rest – Russen, Russlanddeutsche, Ukrainer, Kinder von Gastdozenten sowie Mongolen. Gesprochen wurde auf Deutsch. Da die Mittel nur mir zugeteilt wurden, hatten wir weder eine Schneiderin, noch Handwerker oder Schweißer. Aus diesem Grund mussten wir alles selbst machen.

So haben wir angefangen zu arbeiten und zwei Theaterstücke pro Jahr aufgeführt. Danach ist es dazu gekommen, dass wir kein Geld mehr hatten und das Projekt wurde aufgegeben. Nach dem Projektende ist eine Depressionsphase gebrochen, da ich mit nichts geblieben bin. Es gab nur vier Mädchen, die mit mir arbeiten wollten. Die restlichen Kinder sind groß geworden und wollten weiterstudieren. Ich habe neue Kinder gesucht und ein kleines Zimmerchen im jüdischen Gymnasium gefunden. Die Gruppe ist größer geworden, die vier Mädchen wurden 10, dann 15, aber mehr als 20 gibt es bis jetzt nicht.

So existiert unser Theater seit 2004. Ich habe mich als freiberuflicher Regisseur angemeldet. Ich hatte die Idee, eine interdisziplinäre Schule zu eröffnen. Eine Kunstschule. Kinder jedes Alters, die zu uns kommen, müssen unterschiedliche Fächer absolvieren. Denn Theater ist eine Synthese aus unterschiedlichen Künsten. Da muss man korrekt sprechen, singen und tanzen können sowie einen Kunstgeschmack haben.

Welche Fächer werden bei Ihnen unterrichtet?

Unsere Schüler kommen gleichzeitig in die Schule. Eine Gruppe hat Gesang, die zweite – Russisch, die dritte – Zeichnen und die vierte – Choreographie, die ich unterrichte. Danach proben wir alle zusammen. Das ist aber sehr instabil. Manchmal ist der Maler oder der Musiker nicht da. In diesem Fall ersetze ich sie.

Sind Sie Philologin von Beruf? Oder haben Sie noch eine andere Ausbildung?

Als ich schon in Potsdam lebte, habe ich am Institut für Kultur und Kunst S.-Petersburg an der Fakultät für Regie fernstudiert. Es war nicht immer einfach, da ich als Ausländerin wahrgenommen wurde. 2009 habe ich das Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Das heißt, ich habe erstmal eine praxisbezogene Erfahrung gemacht und mich danach mit der Theorie auseinandergesetzt. Dort habe ich es gelernt, fleißig zu sein, in den Archiven herumzuwühlen und mich ernsthaft vorzubereiten. Wenn man ein Kostüm braucht, muss man alle Folklorequellen durchschauen, durchlesen, um beispielsweise keinen roten Kleiderrock für eine Oma zu nähen. Oder beispielsweise trägt das Schneewittchen häufig zwei Zöpfe, obwohl in der Rus nur verheiratete Frauen zwei Zöpfe getragen haben.

Sie haben die Schule im Jahr 2004 gegründet. Haben Sie sich als Unternehmerin angemeldet?

In Potsdam gibt es einen Verein, der „Semljaki“ heißt. Das ist ein eingetragener Verein. Da werden unterschiedliche Projekte durchgeführt, eins davon ist unsere Kunstschule «inteGrazia»». In dieser Schule bin ich Regisseurin und Direktorin. Der Verein zahlt mir dafür ein Honorar.

Wieviele Menschen arbeiten bei Ihnen insgesamt?

Es ist immer unterschiedlich. Zwei Schneiderinnen, ein Russischlehrer, ein Musiker und ein Maler. Und noch Schamil Chabibov, er ist der Vorsitzende des Vereins „Semljaki“. Er hilft uns sehr viel.

Welche Zukunftspläne haben Sie hinsichtlich Ihrer Schule? Erzählen Sie uns bitte!

Mit großem Vergnügen. Ich möchte eine grosse Schule haben, wo mehr als vier LehrerInnen arbeiten, wo noch Englisch und Italienisch unterrichtet werden und wo es ein Kunst-Studio gibt. Ich will auch, dass unsere Schule von deutschen Kindern besucht wird und dass uns ein großes Gebäude zur Verfügung gestellt wird. Es ist nötig, dass sich Deutsche für uns interessieren. Sonst geht es nicht. Die einzige Institution, von der wir gerade Hilfe bekommen, ist das Arbeitsamt. Es zahlt mir einen Zuschuss. In erster Linie brauchen wir jemanden, der sich mit den organisatorischen und administrativen Aufgaben beschäftigen würde. Denn ich bin ja Regisseurin, ein Kunstmensch. Ich habe noch einen Traum: ich will mal „Цветик – семицветик“ („Tsvetik-Semistsvetik“/“Das Blümchen mit sieben Kelchblätterchen“) aufführen.

Alice, welchen Rat würden Sie neu einsteigenden russischsprachigen Unternehmern, die in Deutschland leben, geben?

Haben Sie keine Angst! Man sollte sogar ein bisschen frech sein. Trotz Angst im Gesicht muss man weitermachen. Dabei ist es sehr wichtig, die menschlichen Eigenschaften nicht zu verlieren, denn das Goldene Kalb ist noch nicht alles. Es ist auch sehr wichtig, zusammenzuarbeiten. Nur alle zusammen können wir die Konkurrenz besiegen. Deutsche haben hier größere Vorteile im Vergleich zu uns. Wir müssen von vorne anfangen: Kontakte knüpfen, Sprache lernen, neue Kenntnisse erwerben und die Psychologie von Konsumenten erforschen. Man soll sich vereinigen und keine Angst haben, kreativ zu sein. Um kreativ zu sein, muss man kundig sein.

Ein Projekt des Deutsch-Russischen Austausch e.V. im Rahmen des Bundeprogramms "XENOS - Integration und Vielfalt". Deutsch-Russischer Austausch e.V.