Geschichten aus dem LebenZwischen zwei Kulturen |
Integration durch Kunst
Alice Keiler ist 1995 nach Deutschland gekommen. Sie erzählt über die Entstehung und Entwicklung ihrer interdisziplinären Kunstschule mit dem Schwerpunkt Theater.
Alice, wo kommen Sie her? Aus Taschkent. Das ist eine wunderschöne Stadt, eine Migrantenstadt. Als ich da gewohnt habe, gab es da mehr Ausländer als Usbeken. In Taschkent haben Deutsche, Juden, Armenier, Krimtataren, Koreaner und Griechen gelebt. Wir alle waren Migranten. Somit bin ich auf Integrationsprobleme schon in der frühen Kindheit gestoßen. 1995. Zuerst bin ich nach Greiswald gekommen. Angefangen habe ich so wie alle: mit den Sprachkursen von Otto Benecke. Danach, so wie alle, hatte ich Hoffnung, mit meinen schlechten Deutschkenntnissen irgendeine Arbeit zu finden, wo ich einen festen Lohn beziehen würde, so etwas wie Buchhalterin oder Sekretärin-Referentin. Als ich bei einer Organisation gearbeitet habe, habe ich verstanden, dass ich „geboren bin, um zu fliegen“. Deswegen habe ich ein Studium an der Universität Potsdam aufgenommen. Ich habe Slavistik studiert, als zweites Fach habe ich Hochschulpädagogik gewählt. Das Studium fiel mir sehr schwer. Hier hat man ein ganz anderes Verhältnis zur russischen Kultur. Des Weiteren war ich von lauter jungen Mädchen umgeben. Und ich hatte zu der Zeit eine zehnjährige Tochter. Als meine zweite Tochter, die hier geboren war, in den Kindergarten ging, haben mich die Erzieher gefragt, ob ich für Kinder eine Veranstaltung organisieren kann. Das habe ich gemacht und das ist mir gut gelungen. Dann habe ich meine Bekannten, mit denen ich zusammen im Wohnheim wohnte, angerufen und ihre Kinder zu Proben eingeladen. Zuerst sind nur vier Mädchen gekommen. Unter häuslichen Bedingungen haben wir ein Märchen inszeniert. Kostüme waren aus Tischdecken und Vorhängen genäht. Im Laufe der Zeit haben sich uns Jungen und andere kleinere Kinder angeschlossen. So sind wir 20 geworden. Unsere Schüler kommen gleichzeitig in die Schule. Eine Gruppe hat Gesang, die zweite – Russisch, die dritte – Zeichnen und die vierte – Choreographie, die ich unterrichte. Danach proben wir alle zusammen. Das ist aber sehr instabil. Manchmal ist der Maler oder der Musiker nicht da. In diesem Fall ersetze ich sie. Als ich schon in Potsdam lebte, habe ich am Institut für Kultur und Kunst S.-Petersburg an der Fakultät für Regie fernstudiert. Es war nicht immer einfach, da ich als Ausländerin wahrgenommen wurde. 2009 habe ich das Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Das heißt, ich habe erstmal eine praxisbezogene Erfahrung gemacht und mich danach mit der Theorie auseinandergesetzt. Dort habe ich es gelernt, fleißig zu sein, in den Archiven herumzuwühlen und mich ernsthaft vorzubereiten. Wenn man ein Kostüm braucht, muss man alle Folklorequellen durchschauen, durchlesen, um beispielsweise keinen roten Kleiderrock für eine Oma zu nähen. Oder beispielsweise trägt das Schneewittchen häufig zwei Zöpfe, obwohl in der Rus nur verheiratete Frauen zwei Zöpfe getragen haben. In Potsdam gibt es einen Verein, der „Semljaki“ heißt. Das ist ein eingetragener Verein. Da werden unterschiedliche Projekte durchgeführt, eins davon ist unsere Kunstschule «inteGrazia»». In dieser Schule bin ich Regisseurin und Direktorin. Der Verein zahlt mir dafür ein Honorar. Es ist immer unterschiedlich. Zwei Schneiderinnen, ein Russischlehrer, ein Musiker und ein Maler. Und noch Schamil Chabibov, er ist der Vorsitzende des Vereins „Semljaki“. Er hilft uns sehr viel. Mit großem Vergnügen. Ich möchte eine grosse Schule haben, wo mehr als vier LehrerInnen arbeiten, wo noch Englisch und Italienisch unterrichtet werden und wo es ein Kunst-Studio gibt. Ich will auch, dass unsere Schule von deutschen Kindern besucht wird und dass uns ein großes Gebäude zur Verfügung gestellt wird. Es ist nötig, dass sich Deutsche für uns interessieren. Sonst geht es nicht. Die einzige Institution, von der wir gerade Hilfe bekommen, ist das Arbeitsamt. Es zahlt mir einen Zuschuss. In erster Linie brauchen wir jemanden, der sich mit den organisatorischen und administrativen Aufgaben beschäftigen würde. Denn ich bin ja Regisseurin, ein Kunstmensch. Ich habe noch einen Traum: ich will mal „Цветик – семицветик“ („Tsvetik-Semistsvetik“/“Das Blümchen mit sieben Kelchblätterchen“) aufführen. Haben Sie keine Angst! Man sollte sogar ein bisschen frech sein. Trotz Angst im Gesicht muss man weitermachen. Dabei ist es sehr wichtig, die menschlichen Eigenschaften nicht zu verlieren, denn das Goldene Kalb ist noch nicht alles. Es ist auch sehr wichtig, zusammenzuarbeiten. Nur alle zusammen können wir die Konkurrenz besiegen. Deutsche haben hier größere Vorteile im Vergleich zu uns. Wir müssen von vorne anfangen: Kontakte knüpfen, Sprache lernen, neue Kenntnisse erwerben und die Psychologie von Konsumenten erforschen. Man soll sich vereinigen und keine Angst haben, kreativ zu sein. Um kreativ zu sein, muss man kundig sein. |
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