German
Deutsch
Russisch
Geschichten aus dem LebenZwischen zwei Kulturen

Freude an Kreativität

 

Über eine Lieblingsbeschäftigung: Designerin und Modeschöpferin Tatjana Boyko ist für Originalität und individuelle Herangehensweise.

 

 

Tatjana, erzählen Sie uns bitte, wo kommen Sie her, wo hatten Sie gelebtund was hatten Sie gemacht, bevor Sie nach Rostock kamen.

Ich stamme aus Odessa, studierte aber in Chisinau, dort machte ich einen Abschluss an der Technischen Fachschule. Dann kehrte ich nach Odessa zurück, arbeitete auf meinem Fachgebiet – als Modedesignerin. Ich arbeitete in einer Trikotagenfabrik, entwarf Modelle für Maßanfertigungen sowie für die Kollektionen einer kleinen Serienproduktion. Das heißt, als eine Spezialistin etablierte ich mich bereits in meiner Heimat. Dadurch konnte ich das erworbene Wissen und die Erfahrung hier in so einem breiten Spektrum anwenden. Ich hatte insofern Glück, als es in Deutschland gerade an Fachleuten meines Niveaus – mit derartiger Ausbildung und professioneller Erfahrung - fehlte. Das hiesige Ausbildungssystem ist etwas anders aufgebaut. Ich verfüge über ein breiteres Kompetenzspektrum. Ich habe die Fähigkeit, den Kunden individuell zu betreuen, kann individuelle Aufträge bearbeiten und für die künstlerische Gestaltung der Modelle sorgen. Gleichzeitig bin ich aber auch eine Konstrukteurin, das heißt, ich kann eine Serie starten, ausarbeiten und darüber eine Dokumentation erstellen, damit sich das Kleidungsstück in der Massenproduktion gut verkauft.

In welchem Jahr kamen Sie nach Rostock?

Ich war 33, als ich hierher kam, das war im Jahre 1997. Innerhalb kurzer Zeit fand ich eine Arbeit, dann eine zweite und eine dritte. Ich arbeitete bei einer sehr bekannten Designerin, deren Arbeit im Norden Deutschlands sehr geschätzt wird, bei Frau Ute Hut. Bei ihr bearbeitete ich individuelle Aufträge und entwarf Modelle, die wir als eine kleine Serie zusammenstellten. Diese Sachen verkauften sich dann in kleinen Boutiquen in Berlin, München, Hamburg. Ich war bei ihr fast fünf Jahre beschäftigt. Unser „künstlerisches Laboratorium“, wie wir es nannten, lag nicht weit von Rostock. Nach fünf Jahren wurde mir bewusst, dass ich im Stande bin, selbständig zu arbeiten, und ich beschloss, auf eigene Faust zu handeln. Manchmal ist es schwierig: Wenn du für jemanden arbeitest, ist dein Lohn garantiert, Sozialabgaben werden abgeführt. Aber die Freiheit lohnt sich, ich bin mein eigener Boss. Heutzutage mache ich im Prinzip das Gleiche. Ich entwerfe individuelle Modelle für meine Kunden und arbeite nach Aufträgen. Das heißt, wenn sich z. B. eine Firma oder eine Theatergruppe an mich wendet, erarbeite ich entsprechend ihren Skizzen Kleidungsstücke und erledige die Dokumentation.

Wann haben Sie Ihr Atelier eröffnet?

Im Jahr 2004.

Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie?

Es kommt drauf an. Das ist von unserer finanziellen Situation und von der Zahl der Aufträge abhängig. Momentan habe ich nur eine Mitarbeiterin, und sie arbeitet nicht die ganze Woche. Manchmal aber beschäftige ich zwei oder drei Mitarbeiter.

Erzählen Sie uns bitte von den Aufträgen, an denen Sie arbeiten.

Die Aufträge sind unterschiedlich. Ich arbeite gerade an einem Kleid für eine Hochzeit, die im Stil mittelalterlicher Hochzeiten stattfinden soll. Die Kundin selber ist nicht die Braut, sondern einer der Gäste – alle Gäste werden ähnliche Kleidung anhaben. Dies ist natürlich ein kostspieliger Auftrag. Oder vor kurzem musste ich Hochzeitskostüme für das Brautpaar nähen, es waren Besitzer einer Reitschule und einer Reitfabrik. Alle sollten zur Hochzeit zu Pferd erscheinen. Und ich musste ein Amazonenkostüm für die Braut und einen entsprechenden Anzug für den Bräutigam nähen. Zu mir kommen also die Menschen, um das zu bestellen, was sie von der Massenproduktion nicht bekommen. Sie zahlen Geld dafür, dass es etwas ganz Besonderes wird, dass es sich von anderen Sachen abhebt. In Rostock habe ich meine Nische gefunden, ich spüre den Charakter dieser Stadt. Ich weiß nicht, ob ich mich in München, Düsseldorf oder Berlin so verwirklichen hätte können. Hier verstehe ich die Werteskala meiner Kunden, was gut oder schlecht ist, was erlaubt ist und was nicht. Ich mag meine Kunden, und ich denke, dass sie mich auch mögen. Jedenfalls, wenn ich die Sachen übergebe, bekomme ich immer außer Geld noch Blumen, Pralinen und Danksagungen. Wenn die Gesichter meiner Kunden vor Freude leuchten, wenn sie glücklich meinen Laden verlassen, das ist viel wichtiger für mich als Geld. Das ist nämlich nicht käuflich.

Wie haben Sie angefangen? Hatten Sie Erfahrung in der selbständigen unternehmerischen Tätigkeit?

In Deutschland ist es einfach. Ich eröffnete mein Unternehmen innerhalb von sechs Wochen. Ich kann nicht sagen, dass ich viele bürokratische Probleme hatte. Ich hatte wahrscheinlich Glück, denn die Menschen, mit denen ich während der Eröffnungsprozedur Umgang hatte, das heißt, die Mitarbeiter all dieser Instanzen, behandelten mich sehr menschlich und leisteten mir in der Tat mehrmals Hilfe.
Natürlich ist die finanzielle Unabhängigkeit nicht immer einfach. Sie impliziert finanzielle Höhen und Tiefen, Risiken, psychische Belastung. Diese Genugtuung und diese Freiheit möchte ich aber im Endeffekt gegen nichts auf der Welt tauschen. Ich kann z. B. Aufträge ablehnen, die mir nicht gefallen und die in ihrer Ausführung uninteressant sind.

Tatjana, fühlen Sie sich im Großen und Ganzen wohl in Deutschland?

Ja, in den letzten  anderthalb Jahren bin ich achtmal nach Moskau geflogen. Und ich hätte nie gedacht, dass ich die Deutschen, die deutsche Lebensweise so liebe. Dort im Atelier sprechen wir mit Russen Russisch, aber wir verstehen uns nicht. Es ist sehr schwer zu begreifen, was sie im Endeffekt von mir wollen oder warum sie so handeln. Dies betrifft sowohl die öffentlichen Verkehrsmittel als auch den Dienstleistungssektor. Wenn ich in Schönefeld gelandet bin, gehe ich  zum Parkplatz, steige in den Wagen und atme erleichtert auf. Ich fühle mich zu Hause angekommen, glücklich. Rostock ist meine Stadt.

Mit wem haben Sie Umgang – mit Deutschen, Russen, Ukrainern?

Es ist unterschiedlich. Meine Kunden sind Deutsche. Es gibt nur zwei bis drei Damen aus Russland, die hier seit langem leben. Aber sogar mit ihnen besprechen wir das, was das Nähen angeht, auf Deutsch – es ist einfacher für uns. Was den privaten Freundeskreis betrifft, sind es ehemalige Arbeitskollegen, Freundinnen, ebenfalls Deutsche. Es gibt aber auch Russen, Ukrainer, die ich auf dem Weg hierher kennengelernt hatte und mit denen ich bis jetzt in Kontakt geblieben bin. Außerdem habe ich ausgezeichnete Beziehungen zu den Kollegen von der IHK. Wir unterhalten dort eine kleine berufliche Vereinigung von sechs Personen.

Sind es Rostocker Designer?

Es sind Inhaber Rostocker Ateliers. Wir machen viel zusammen. Wir können z. B. etwas für drei bestellen und dann unter uns aufteilen. Auch wenn wir sogar die gleichen Stoffe haben, werden die Kleider unterschiedlich. Es kommt vor, dass ein Kunde zu mir kommt und erklärt: Ich will dies und dies und dies. Mir wird klar, dass es nicht mein Auftrag ist, und ich schicke ihn zu einem anderen Meister. Genauso werden einige Kunden zu mir geschickt. Und es entstehen manchmal schwierige Situationen, sogar persönlichen Charakters, und wir können uns gegenseitig helfen. Das ist sehr wichtig für mich. Voriges Jahr fand z. B. das 25-jährige Jubiläum meiner Berufstätigkeit als Meisterin statt. Es kam jemand von der IHK, mit Blumen und einer Urkunde. Ich selber hatte daran nicht gedacht! Es war sehr angenehm!

Tatjana, was würden Sie denjenigen raten, die nach Deutschland kommen und hier selbständig werden möchten? Womit sollte man anfangen?

Man sollte vor nichts Angst haben. Wenn du ein Ziel vor Augen hast, geh vorwärts. Bitte um Hilfe. Klopfe an allen Türen, und es wird dir aufgetan.

Ein Projekt des Deutsch-Russischen Austausch e.V. im Rahmen des Bundeprogramms "XENOS - Integration und Vielfalt". Deutsch-Russischer Austausch e.V.